Da fiel Ole etwas ein: “Viola, damals, als wir uns wieder trafen und Du uns von Deiner
Rettung durch die Bewohner der nördlichen Länder berichtet hast, versprachst du uns, einige der wundersamen Geschichten und Sagen zu erzählen, die Du dort gehört hast.
Jetzt wäre doch ein schöner Zeitpunkt. Draußen regnet es so herrlich und hier drinnen ist es gemütlich. Da können wir uns doch vorstellen,
wir säßen in einem Zelt aus Seehundfell und wärmten unsere Hände über Lebertran.
„Ja, holt alle Kerzen her und stellt sie in die Mitte. Das gibt einen schönen Schimmer über meine Geschichte.“
„Nimm noch meinen Pelz, Viola, leg ihn über die Schulter, wie es die Menschen tun, von denen du uns erzählen willst.“
„Danke, mein Prinz.
Nicht wahr, Ihr wißt, wie der Wind um die Hütten wehen kann. Den Hütten aus Eis und Schnee. Wie er von den nördlichsten Breiten herbei eilt, um Dünen in die weiße Haut des Landes zu zeichnen. Wie er die weichen
Flocken vorwärts treibt und sie zu messerscharfen Dolchen macht. Ihr kennt seine Kälte und seine Leidenschaft.
Nicht wahr, ihr kennt den Wind des Nordens, dessen Melodie eine einsame ist. Ihr habt sein Lied gehört, wie ich. Ein Lied, das von den Weiten spricht, die wir nicht erreichen können. Die uns doch locken mit den Düften von
nie betretenem Eis. Wie es knirschen muß und knacken.
Die uns doch rufen, mit den Geheimnissen,
die tief verborgen unter Schichten von Schnee und Schnee. Was mögen sie verbergen? Ein Land von sprudelnden Quellen und einsamen Wäldern, oder doch nur nackter Stein und noch größere Traurigkeit? Es ist das Land der Mitte, dort kommt der
Wind des Nordens her.
Er kommt den weiten Weg und verweht die Spur des einsamen Wanderers.
Er kommt den weiten Weg und verweht die Spur der alten Pfade. Er kommt den weiten Weg- und bleibt.
Ja, es war der Nordwind, der kam und blieb.
Er traf Ewoltle, den Jäger, als
er ein Loch in das Eis schlug, um einen Fisch zu fangen. Er fuhr in ihn ein und kehrte mit ihm in sein Dorf zurück. Fortan trieb er Ewoltle um.
Ewoltle war nicht mehr er selber. Das merkten
die anderen sehr schnell. Er wollte nicht mehr auf die Jagd gehen, nicht mehr Löcher in das Eis hacken. Ewoltle wollte seine Hütte nicht reparieren, nicht mehr Fische zum trocknen aufhängen. Auch die Frau, die er umworben hatte, wollte er nicht
mehr sehen.
Ewoltle hatte nur noch einen Gedanken. Er packte seine Sachen zusammen, spannte
seine Hunde vor den Schlitten und lud die Dinge, die er zum Überleben benötigte, auf diesen Schlitten. Die anderen umringten ihn und fragten ihn aus, was er denn vorhabe.
„Ich muß das Land der Mitte finden,“ antwortete Ewoltle auf die aufgeregten Fragen.
Anuk, die Frau die ihn erhört hatte, sagte: “Was willst du dort? Dort wartet nur der Tod auf Dich. Das wäre schade, denn Du bist der schönste Mann des
Dorfes.“ Sie lächelte ihn an und wirklich, sein rundes, fröhliches Gesicht machte ihn zum schönsten Mann des Dorfes.
„Ich muß das Land der Mitte finden,“ antwortete Ewoltle wieder.
Suruk, der Älteste des Dorfes sagte: “Was willst Du dort? Dort wartet nur der Tod auf Dich. Das wäre schade, denn Du bist der beste Jäger des Dorfes.“ Er lächelte ihn an und wirklich, er war der beste Jäger
des Dorfes.
„Ich muß das Land der Mitte finden,“ antwortete Ewoltle erneut.
Anusch, der beste Freund Ewoltles sagte: “Was willst du dort? Dort wartet nur der Tod
auf Dich. Das wäre schade, denn Du bist mein bester Freund in diesem Dorf.“ Er lächelte ihn an und wirklich, er war der beste Freund, den er in diesem Dorf besaß.
All das war wahr und Ewoltles wußte das, aber wieder blies der Nordwind in ihm und trieb ihn fort.
Da sprach Sansche, die weise Frau des Dorfes. “Laßt ihn ziehen. Der Nordwind bläst in ihm. Er nimmt ihn mit sich fort, weil er nicht länger
alleine sein will. Wenn der Wind in einem Menschen lebt, dann ist es so und niemand kann es ändern. Verabschiedet Euch von Ewoltle und vergeßt ihn, denn er sucht das Land der Mitte und dort wartet der Tod.“
Da lächelten die anderen nicht mehr und verabschiedeten sich mit Trauer im Herzen von Ewoltle, als wäre er bereits gestorben. Er
stieg auf seinen Schlitten und jagte davon. Schnell wie der Wind, der ihn trieb.
Der Wind
bereitete Ewoltle den Weg über das rauhe Land. Dann, als sie das offene Meer erreichten, trieb er ihm Eisschollen zu, auf denen er sicher und schnell seine Reise fortsetzen konnte, ohne es zu bemerken. Und während der ganzen Zeit, war Ewoltle nur
von dem Verlangen getrieben, das Land der Mitte zu erreichen.
Endlich, nach vielen Wochen,
erreichten sie das Land der Mitte. Ewoltle staunte sehr, als er dieses wunderschöne Land sah. Ein kleines Land, aber fruchtbar und liebreizend.
„Warum verweilst Du nicht in diesem schönen Tal? Warum reist Du über das kalte, öde Land des Winters?“ fragte Ewoltle seinen Begleiter.
„Einer muß es tun. Ich muß den Schnee vorwärts treiben und das Eis zu Dünen schlagen. Ich muß das Land des Winters
mit meinem Atem überziehen. Muß das Lied der Traurigkeit singen. Wer sollte es sonst tun?“
„Und das Land in der Mitte?“
„Hierher darf ich zurückkehren,
wenn ich meine Arbeit erledigt habe. Aber es ist so einsam.“
„Wie gerne würde
ich mit Dir tauschen, nur, um hier meine Zeit verbringen zu dürfen. Es ist das Land von dem ich träumte, seit ich ein Kind war.“
„Deshalb fuhr ich in Dich hinein. Erzähl mir von der hübschen Frau mit dem platten Näschen und den Mandelaugen, davon, wie sie leise kichert, wenn Du sie am Ohr kitzelst. Erzähl mir von der
Jagd, wenn Du das Eis durchbrichst, den Fährten folgst. Erzähl mir von dem jungen, der Dein Freund ist. Was redet Ihr?“
„Gerne will ich Dir all das erzählen, doch sag mir erst, warum.“
„Wir könnten doch tauschen. Du ziehst statt meiner über das Land des Winters und darfst dafür das Land der Mitte besitzen. Ich bekomme Deine Gestalt und kehre als Mann in Dein Dorf zurück. Als Ewoltle!“
Ewoltle kehrte in sein Dorf zurück. Er tauchte eines Tages hinter einer Schneedüne auf und verblüffte die Menschen seines Dorfes mit seiner Rückkehr. Die lange Reise hatte
ihn verändert. Er war nun ganz bei ihnen. Nicht mehr abwesend und verträumt. Er redete niemals von dem Land der Mitte und genoß das Leben in ihrer Mitte. Ja, er hatte seine Mitte unter ihnen gefunden. Er freute sich, wenn Anuk kicherte, wenn
er sie kitzelte. Er liebte es, den scharfen Wind in seinem Gesicht zu spüren, wenn er auf der Jagd war. Er erfreute sich der Gespräche mit seinem Freund Anusch. Er war zum ersten Mal zufrieden.
Nur Sansche, die weise, alte Frau starrte ihn bisweilen fragend an. „Bist Du Ewoltle oder wer bist Du?“ Niemand beantwortete ihr diese
Frage. Ewoltle lächelte nur, wenn er sie sah.
Nun, was glaubt ihr? Hat Ewoltle das Angebot
des Windes angenommen und sein Leben einem anderen geschenkt, der mehr damit anzufangen wußte, oder war er sich plötzlich der Kostbarkeiten bewußt geworden, die er besessen hatte? Die Freundschaft, die Liebe, das Ansehen. Wer weiß es?
Nur der Wind könnte es uns sagen. Der Wind des Nordens, der vor unserer Haustür umher streicht und einen Namen flüstert. Ich kann ihn nicht verstehen. Wenn ihr leise seid, könnt ihr es vielleicht ahnen. Doch gebt Acht, dass er nicht den
Euren ruft, denn dann seid ihr verloren, denn eurer Herz kennt keine Ruhe mehr, bis Ihr das Land der Mitte geschaut und das süße Wasser seiner Quellen gekostet habt.“
Kerstin Surra